Samstag, 26. Januar 2013

Großstadt

Wenn das Wetter draußen nur eine graue Wand vors Fenster stellt und sich eine melancholische Stimmung über dem Kopf breit macht, kann man zwischen 590 000 Einwohnern schon etwas verloren gehen. Mir geht es jedenfalls gerade so.
Irgendwie habe ich Lust, raus zu gehen und von meinem Schreibtisch mit den Lehrbüchern für eine Stunde zu flüchten.
Stattdessen habe ich einen Blick in meine Tageszeitung geworfen. Fast schon Luxus...
Das Feuilleton hat mich auf der ersten Seite an Kurt Tucholsky erinnert, mit einem Gedicht, dass ich das erste Mal las, als ich in einem muffig riechenden Hörsaal saß. Und ich konnte nichts damit anfangen.
Wenn ich es jetzt lese, kann ich jedes Wort nachvollziehen. Hier ist es:


Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
    da zeigt die Stadt
    dir asphaltglatt
  im Menschentrichter
  Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
    Ein Auge winkt,
    die Seele klingt;
  du hast's gefunden,
  nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
    Es kann ein Feind sein,
    es kann ein Freund sein,
  es kann im Kampfe dein
  Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.


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